Machtübernahme der Taliban

„Das afghanische Volk ist der Verlierer“

Im Jahr 2020 hat der Afghanische Kulturverein Lippe 60 Familien in der Provinz Parwan geholfen. Foto: Afghanischer Kulturverein

Der Detmolder Dor Mohammed Mobram sieht die Entwicklung differenziert.
Die Machtübernahme der Taliban sei vorhersehbar gewesen. Die Sorge vor einer unsicheren Zukunft treibe viele zur Flucht.

LZ: 20 August 2021 Astrid Sewing

Kreis Lippe. Es ist seine alte Heimat, die Dor Mohammed Mobram jetzt in vielen Fernsehbeiträgen sieht. Nach dem Abzug aller ausländischen Truppen haben die Taliban fast alle der 34 Provinzen unter ihre Kontrolle gebracht. Weil sie Angst vor Vergeltung haben, drängen sich Afghanen um Flugzeuge. Sie wollen nur eins: weg.

Mobram hat lange in Afghanistan gelebt, seit Jahrzehnten ist der Vorsitzende Motor des Afghanischen Kulturvereins, der vor Ort hilft. Das Land, so sagt der Detmolder, sei immer arm gewesen. Es fehle an vielem, doch geopolitisch ist es interessant – und es gibt viele Bodenschätze. „Die Weltöffentlichkeit ist immer nur kurz aufmerksam.“ Die Bilder der verzweifelten Menschen haben Macht – aber Mobram bezweifelt, dass sich et-was grundlegend ändert. Die Taliban seien andere als in den 90er-Jahren. „Sie haben mit den USA vor deren Abzug verhandelt, letztlich sind sie auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen.“ In dem Abkommen sei es darum gegangen, Gewalt zu vermeiden, um die Zusicherung, die Zivilbevölkerung nicht ins Mittelalter zurück zu katapultieren, Frauenrechte wieder zu beschneiden, archaische Strafen zu vollstrecken. Ob es so kommt? „Das wird man sehen.“ Er hält den telefonischen Kontakt, weil er wissen will, was sich abseits größerer Orte abspielt. Gibt es Kämpfe, Widerstand? Mobram sieht schon einen Unterschied zu den „alten“ Taliban und den Mudschahedin, die Guerilla-Gruppierungen, die gegen die sowjetische Besetzung gekämpft hatten. „Die Machtübernahme ist fast geräuschlos abgelaufen. Es gab keinen Widerstand durch die Armee. Und was wir hören, ist, dass es ruhig ist auf den Straßen. Einige Schulen sind geschlossen, andere geöffnet. Die Menschen haben Sorge, wie das weitergeht.“

Seit 40 Jahren gibt es die kriegerische Situation in Afghanistan, 20 Jahre lang gab es die Intervention der Weltgemeinschaft in diesem Land, erst als Hilfsaktion, später als Krieg bezeichnet. Über die große Distanz relativierte sich für die westliche Welt, was sich dort abspielte. Afghanistan ist geostrategisch interessant. „Sie sehen es daran, dass die Taliban auch durch China hofiert werden“, sagt Mobram. In der Geschichte haben einige Mächte versucht, Fuß zu fassen. Alexander der Große marschierte unter anderem mit seinen Legionen dort ein, Kolonialmächte des Britischen Empire, die russische Rote Armee war dort stationiert und hat das Fundament des neuen Bürgerkriegs gelegt, amerikanische militärische Kräfte haben mit Beteiligung der Nato und ISAF ihre Präsenz in Afghanistan gefestigt. „Aber keiner dieser Mächte konnte seine eigenen Ziele erfolgreich erreichen“, sagt Mobram. Die größte Einflussnahme habe der Islam – weiterhin ist er die offizielle Staatsreligion, und über 99 Prozent der afghanischen Bevölkerung sind Muslime.

— Ein geostrategisch interessantes Land —


„Zwischen 1995 und 2001 schufen die Taliban ein Netz aus Islamisten wie Bin Laden und radikalen Gruppierungen. Der 11. September hat ein neues Kapitel in der Geschichte von Afghanistan aufgeschlagen“, stellt Mobram fest. 120.000 Soldaten aus 47 Ländern unter Führung der USA verbündeten sich im Kampf gegen den Terrorismus, in Afghanistan wurden die Taliban niedergeschlagen, der Wiederaufbau und die Demokratisierung Afghanistans begann. „Aber leider wurde der Prozess überwiegend militärisch betrachtet. Terrorismus, Korruption und Drogenhandel waren als Bedrohung aktiv geblieben und die Situation geriet ins Chaos“, sagt Mobram. Die Bilanz sei ernüchternd: „Unterschiedliche strategische Ziele, unterschiedliche Interessen und Arbeitsweisen der Länder, aber auch schwache Kooperation der afghanischen Regierung mit der Weltgemeinschaft haben das Land in eine instabile korrupte Situation geführt. Sogar ein 20jähriger Kampf gegen Terror und Korruption konnte die Demokratie in Afghanistan nicht aufrechterhalten.“

Vor 18 Monaten wurde ein Abzugsdeal der USA mit den Taliban ausgehandelt, jetzt sind diese zurück an der Macht. Mobram spricht von 3,5 Millionen Binnenflüchtlingen aus Kandahar oder Mazar e Sharif. „Viele haben Angst, dass sich die Taliban nicht an die Vereinbarungen halten und sie wollen eine bessere Zukunft. Wer kann und will sie überhaupt aufnehmen? Das afghanische Volk ist und bleibt der Verlierer. Meine Hoffnung ist, dass die Taliban mittlerweile gelernt haben, dass sich ein Volk nicht auf Dauer mit Gewalt unterdrücken lässt und die Weltgemeinschaft über die Wirtschaftshilfen Druck macht.“