Trotz Uni-Verbot: Professor unterrichtet von Detmold aus weiter
Kreis Lippe/ Kabul. Lippische Landeszeitung | Janet König | 31.3.2013
Ein wenig stolz und zugleich wehmütig blättert Professor Raz Mohammad Azizi durch seine Publikationen, die auf dem Tisch ausgebreitet liegen. Etwa 20 Bücher und hunderte Artikel hat er in arabischer Schrift verfasst, es geht um Grundlagen der Bauphysik, Temperaturtechnik oder auch Akustik. 37 Jahre lang war Raz Mohammad Azizi Teil der Polytechnic University in Kabul, einem der laut Internet wohl wichtigsten Ausbildungszentren für Ingenieure in Afghanistan. Erst als Student, dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter, später als Professor und Fakultätsleiter. Es war seine Berufung, man sieht es in seinen Augen. Nun ist alles anders.
Mit der Machtübernahme der Taliban vor anderthalb Jahren änderte sich auch sein Leben schlagartig, beschreibt Azizi. Durch die Proteste, die ungewisse politische Zukunft und das Bildungsverbot für Frauen habe er nicht mehr in seinem Heimatland bleiben können – und wollen. An den letzten Schritt, den er in seine fast vier Jahrzehnte als sinnstiftende Arbeitsstätte dienende Universität setzte, kann sich Azizi nicht mehr erinnern. Er schüttelt zumindest den Kopf. Vielleicht sind die Erinnerungen auch zu schmerzhaft.
Kurz nach der Rückkehr der Taliban sei Azizi in die Türkei geflüchtet. Erst vor drei Monaten, Anfang Januar, ist der 62-Jährige dann nach Deutschland und schließlich nach Detmold gekommen, sein Sohn lebt hier bereits seit etwa zwei Jahren. Es sei eine „Familienzusammenführung“ gewesen, wie es deutschbürokratisch und hochoffiziell heißt. Von Lippe aus will Azizi nun seine Berufung fortsetzen – mit zwölf Kollegen, die inzwischen über weitere deutsche Städte und andere Länder verteilt seien, möchte der damalige Direktor der Fakultät dafür sorgen, dass seine Studentinnen weiter unterrichtet werden. Denn seit die Taliban zurückgekehrt sind, werde den Frauen in Afghanistan der Zutritt an die Universitäten untersagt. „Wir möchten die Lücke, die dadurch entsteht, schließen. Keiner weiß, wann die Frauen wieder studieren können“, sagt Professor Raz Mohammad Azizi. „Jeden Tag wird die Situation schlimmer.“
Knapp 150 junge Frauen lernen heimlich weiter
Azizi spricht ausschließlich Persisch, für das Gespräch mit der LZ hat sich Dor Mohammad Mobram, Vorsitzender des Afghanischen Kulturvereins Lippe, als Übersetzter bereit erklärt. In den kleinen, gemütlich eingerichteten Räumen des Vereins spricht Raz Mohammad Azizi über das lang vorbereitete Projekt, das ihm sehr am Herzen zu liegen scheint. Er trägt einen Anzug und versprüht eine traurige Ernsthaftigkeit. Zwischen 110 und 150 Frauen unterrichte das Team aus Professoren täglich in unterschiedlichen Fächern über die Online-Plattform Zoom. Absprachen erfolgten über Messenger, so sei der Kontakt mit den Frauen auch entstanden. Die Studentinnen sollen den Anschluss zu ihren männlichen Kommilitonen nicht verlieren, die ganz normal weiter lernen dürfen, sagt Azizi.
Es sei nicht leicht, die jungen Frauen seien zwar dankbar über die regelmäßige Möglichkeit des digitalen Fernunterrichts, doch auch die Angst schwinge immer etwas mit. Abseits davon seien weder Internet- noch Stromverbindung in Afghanistan stabil, immer wieder verhinderten Ausfälle die digitalen Kurse. Oft müsse man in den Gruppen auf Teilnehmerinnen verzichten, weil der Strom versage. „Sie sind sehr froh über das Projekt, aber sie haben so viele andere Probleme“, sagt der afghanische Professor. Kein Lohn, kein Essen, die Familien – egal ob alt oder jung – litten unter den Taliban.
Die Vision von einer dezentralen Universität ist der Anreiz
Seine Vision mit den anderen Kollegen sei es, vom Ausland aus eine digitale Universität aufzubauen. Denn letztendlich könnten die Professoren den jungen Frauen zwar helfen, Wissen weiterzuvermitteln und nicht den Anschluss zu verlieren, doch ein offizieller Abschluss fehle ihnen dann immer noch. Keiner wisse genau, wie es langfristig politisch in Afghanistan weitergeht. Als „dunkel und unklar“ beschreibt Raz Mohammad Azizi die Situation in der hinter sich gelassenen Heimat.
Ob ihm Konsequenzen drohten, würde der heimliche Unterricht für die jungen Frauen auffliegen? Daran scheint er nicht denken zu wollen. Eine konkrete Antwort bleibt aus. „Es ist eine riskante Sache, aber Weiterbildung ist unser Leben“, sag Azizi. Vor der Rückkehr der Taliban seien seine Kurse etwa zur Hälfte von Frauen besucht gewesen, überwiegend studierten diese Fachrichtung in Kabul Männer. Die Taliban verwehrten den Frauen nun komplett den Zugang zur Bildung, dagegen müsse man sich auflehnen.
Vor anderthalb Monaten haben Azizi und seine Kollegen mit dem Online-Unterricht begonnen, sagt er. Er leite die Kurse von Detmold aus, andere Professoren unterrichteten aus den Niederlanden oder der Türkei. Ein halbes Jahr hätten die ehemaligen Lehrkräfte das Projekt geplant, Stundenpläne entwickelt und Lerninhalte besprochen. Nun sei alles, was Azizi brauche, ein Laptop und sein Zimmer, um in Ruhe seine digitalen Vorlesungen zu leiten. Nebenbei besuche er Deutschkurse, um sich selbst für sein neues Leben hier zu wappnen. Er habe wieder bei Null anfangen müssen. Aber Bildung gehört eh seit jeher fest zu seinem Leben – und jedem Menschen stehe sie zu.